Phantastik-Tipp der STUBE
Aus d. Engl. v. Wolfram Ströle.
Dtv 2025.
352 S.
Philippa Leathley: Inkbound. Metty Jones und das Schicksalstattoo
„Schicksale zu deuten ist nicht im Service inbegriffen.“
Am zehnten Geburtstag haben Kinder die Möglichkeit, in einer magischen Zeremonie ihr Schicksal auf den Handrücken tätowiert zu bekommen. Viele der in Trance gestochenen Motive (Bücher für Lehrer*innen, Bibliothekar*innen oder Besserwisserei; Spiegel für Schönheit oder Eitelkeit, Würfel für Waghalsigkeit und Glücksspiel oder beides) sind einigermaßen selbsterklärend und werden nicht selten vererbt. Mettys Tattoo aber steht in keinem Lexikon erklärt, und auch aus ihrer Verwandtschaft ist nichts Ähnliches bekannt – zum Glück: Der von einem Handschuh umfasste Totenkopf scheint sie zum Mord an einer magischen Person zu verdammen.
Mettys meist alleinerziehender Vater zieht sich mit seiner Tochter aufs Land zurück, um sie vor den Anfeindungen der Welt und die Welt vor ihr zu schützen. Metty nimmt ihr Schicksal sehr ernst und legt für jede Person in ihrem Leben eine Liste mit Gründen an, die sie vielleicht einmal dazu verleiten könnten, dieser Person Schaden zuzufügen. Ganz kann sie sich den Verlockungen der Zauberei aber nicht entziehen: Aus Einsamkeit erweckt sie einen Gargoyle zum Leben oder lässt sintflutartige Regenfälle im Haus entstehen. Der ansonsten ruhige Alltag wird erschüttert, als der Vater ausgerechnet an Mettys elftem Geburtstag nach geheimnisvollen Andeutungen verschwindet. Tage später steht seine Schwester Mag vor Mettys Tür und bringt sie nach Neu London, einer von vielen neugegründeten magischen Städten, die, gespeist von einem Strom magischer Tinte, über dem Meer schweben. Weder Tante noch Nichte sind begeistert vom kurzfristigen Zusammenleben, zumal Mag nicht zu ahnen scheint, warum ihr Bruder so plötzlich verschwunden ist. Metty dagegen ist sofort sicher: Ihr Vater wurde ihretwegen bedroht und entführt, und sie muss ihn retten. Nicht leicht in einer Stadt, von deren Existenz sie vor zwei Tagen noch nichts wusste und deren verschiedene Viertel man teilweise nur fliegend erreicht.
Zum Glück gibt es in Tante Mags Haus noch andere, freundlichere Bewohner: Onkel Rupert etwa, der eine Vorliebe für skurrile Kostüme und Theater hat, oder Sundar, der kein Schicksalstattoo bekommen hat und das Haus fast nie verlässt, aber Metty helfen will.
Und es gibt Faith, die Mettys neuen magischen Handschuh stiehlt (unverzichtbares Utensil zum Wirken von Magie in dieser Welt, vergleichbar dem klassischen Zauberstab), ihr dann aber das Leben rettet. Erstmals wird Metty hier mit einer anderen düsteren Prophezeiung konfrontiert – Faiths Tattoo kennzeichnet sie als Diebin – und hinterfragt die Unabwendbarkeit der Tattoos.
[Faith] zog den Fäustling wieder an und zuckte mit den Schultern. „Ein schlimmes Schicksal hat auch etwas Gutes. Wenigstens muss man dann kein schlechtes Gewissen haben. Warum sollte man sich wegen etwas mies fühlen, für das man gar nichts kann? […]“
„Für dich ist das vielleicht nicht schlimm, aber für mich schon. Und mir ist egal, was mein Schicksal sagt“, log Metty. „Ich versuche trotzdem, gut zu sein.“
Das Mädchen sah sie verständnislos an. „Warum?“
„Eben weil. Weil es richtig ist.“
Nicht richtig finden die Mitglieder der militanten Aktivistengruppe „Schwarzen Motte“, dass Magie von der Regierung zum Luxusobjekt erhoben wurde und die magische Tinte teuer bezahlt werden muss, obwohl es mehr als genug für alle Bewohner*innen der Stadt gäbe. Während Metty nach ihrem Vater und sich selbst sucht, werden mehrere nicht tödliche Attentate an öffentlichen Plätzen verübt.
Vor dem Auftritt einer Wahrsagerin, die Metty nach ihrem Vater befragen möchte, tritt „die Schwarze Motte“ wieder in Erscheinung und entführt Metty. Den Grund dafür erfährt sie zeitgleich mit einem ungeheuerlichen Verrat (wer diesen begeht, wird hier selbstverständlich nicht gespoilert): Ihre besondere magische Kraft – nicht jeder kann Gargoyles zum Leben erwecken, wie sich herausstellt – soll der „Schwarzen Motte“ helfen, die Freigabe der Magie für alle zu erzwingen. Sich zu weigern, könnte nicht nur Mettys eigenes Leben in Gefahr bringen, sondern auch das ihres Vaters…
Philippa Leathleys Debüt ist so magisch wie die Tinte, die sich als blauer Faden durch die Kapitel zieht. Für Metty ist Magie eine Gefahrenquelle, für viele Menschen in Neu London ein unerschwinglicher Traum, für die Mitglieder der „Schwarzen Motte“ ein Menschenrecht. Als solches wird auch die Tätowierungszeremonie verstanden, deren Bedeutung für das eigene Leben Metty erst durch die Begegnung mit Faith hinterfragen kann. Gesellschaftspolitische und philosophische Fragen der Lebensführung werden geschickt in die spannende Suche nach Mettys Vater verwoben. Die Vielschichtigkeit und der glaubhafte Eigensinn der meisten Charaktere sorgt für Momente positiver Frustration (wenn eine Spur ins Leere führt und Metty einen neuen Ansatz für ihre Suche braucht) und viel Humor.
Ganz nebenbei erschafft Leathley ein originelles und einfach verständliches Magiekonzept und lässt intertextuelle und -mediale Verweise einfließen. Neben dem zum Leben erweckten Gargoyle „Pumpkin“ taucht ein Homunculus auf, der sich seiner selbst nicht bewusst ist – Leben aus dem Nichts zu bilden, bleibt also auch in diesem System eine heikle und teilweise blasphemische Prozedur. Am Ende des ersten Buches hat Metty mit ihren magischen Fähigkeiten Frieden geschlossen. Jetzt gilt es, sie beherrschen zu lernen und der Schwarzen Motte endgültig das Handwerk zu legen.
Bis 2026 müssen Fans sich für den zweiten Band gedulden. Tipps aus dem Roman, um sich die Wartezeit zu vertreiben:
- eine Maschine erfinden, die jede beliebige Speise auf den Teller zaubert
- magisches oder reguläres Cluedo spielen
- sich ein Tattoo stechen lassen oder
- das eigene Schicksal umschreiben
Simone Weiss
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